Ohne Ausgrenzung, Streit und lange Wartelisten
Was andere Tafeln vom „Wolfenbütteler Weg“ lernen können. Pluspunkte sind Organisation und Zusammenhalt.
Wenn man die Sache von außen betrachtet, hat sie durchaus Konfliktpotenzial: Sich bei einer Tafel zu melden, um Unterstützung in der alltäglichen Versorgung zu erhalten, ist eine Überwindung. Zudem erhöht das Anstehen in einer Schlange vor verschlossenen Türen die Gefahr der Stigmatisierung. Und wenn sich solche Ausgabestellen dann auch noch in einem Gewerbegebiet am Rande der Stadt befinden, dann ist die Erreichbarkeit und Hemmschwelle umso größer. Und wenn obendrein ein Aufnahmestopp verhängt wird oder es eine Warteliste gibt, auf der das Nachrücken quasi ausgeschlossen ist, dann müsste man wohl Verständnis haben für das ein oder andere böse Wort unter den Abholern.
Ganz anders läuft es bei der Tafel des DRK-Kreisverbandes Wolfenbüttel. „Wir haben uns im Grunde von Anfang an gegen all das entschieden“, sagt Juliane Liersch. „Gegen Schlangen vor der Tür, gegen Wartelisten und gegen das Gewerbegebiet.“ Seit zehn Jahren leitet sie die Tafel am Großen Zimmerhof 29 sowie den Second Hand-Laden „Eberts Hof“, den das DRK dort ebenfalls betreibt – alles im Herzen der Stadt, an der Fußgängerzone.
„Wir wollen die Menschen eben nicht vor den Toren der Stadt abfertigen“, erklärt die 73-jährige Ehrenamtliche, die dafür kürzlich schon Lob aus berufenem Munde bekommen hat: Christian Müller ist Tafel-Beauftragter der Lidl-Regionaldirektion in Hildesheim. Von dort aus betreut er mehr als 20 Tafel-Standorte. „Hier in Wolfenbüttel ist die Lage ungewöhnlich“, kommentierte er die Situation mitten in der Fußgängerzone. Die meisten Tafeln würden in den Randlagen versteckt. „Ich finde den Wolfenbütteler Weg beachtlich.“
Zu diesem „Wolfenbütteler Weg“ gehört noch mehr: Es gibt keine Schlangen vor der Tür – alle Abholer haben feste Besuchstermine, so dass nie zu viele kommen. Das Team um Juliane Liersch hat zudem den festen Vorsatz, alle Bedürftigen aufzunehmen. „Es soll bei uns keinen Aufnahmestopp und keine Warteliste geben“, versichert sie. Sollten die Lebensmittelspenden mal nicht ausreichen, würde eben bei allen etwas gekürzt. Zum Glück bestehe die Gefahr noch nicht, denn immer wieder geben Gruppen oder Einzelspender. „Wolfenbüttel hält zusammen.“
Dass die Versorgungslage der Tafel in unserer Stadt so stabil ist, grenzt an ein Wunder. Denn seit sie vor 17 Jahren durch den DRK-Kreisverband gegründet wurde, hatten sich die Abholerzahlen bei rund 950 Personen eingependelt (Wolfenbüttel und Schladen). Doch durch Kriege und dadurch steigende Flüchtlingszahlen werden mittlerweile fast 2200 Personen versorgt.
Dieser Trend gilt natürlich bundesweit. Allein in Niedersachsen/Bremen gibt es rund 100 Tafeln, die allesamt steigende Nachfrage verzeichnen. Um diese besser bewältigen zu können, sind nun zwei neue Logistikzentren im Emsland und in der Region Hannover geplant. Mitte 2023 hatten 30 Prozent der Tafeln einen Aufnahmestopp und 20 Prozent eine Warteliste. Jede zweite Tafel musste die Ausgabezeiten verlängern, benötigte dadurch aber auch mehr Helferinnen und Helfer. In Niedersachsen und Bremen engagieren sich rund 7000 Menschen bei den Tafeln, meldet der Landesverband, dessen Schirmherr Ministerpräsident Stephan Weil ist.
„Die Lage bei den Helfern ist örtlich sehr unterschiedlich“, sagt Uwe Lampe, Vorsitzender des Landesverbandes. Ebenfalls gebe es regionale Unterschiede bei den Lebensmittelspenden. „Wir haben ein Stadt-Land-Gefälle“, erläutert er. In städtischen Gebieten sei es oft einfacher, Lebensmittelspenden zu erhalten, im ländlichen Raum schwieriger. Laut Lampe versorgen die Tafeln in den beiden Bundesländern mehr als 200.000 Menschen. Bundesweit seien es mehr als zwei Millionen.
In der Vergangenheit wurde auch von Streitigkeiten in den oft langen Schlangen vor den Ausgabestellen berichtet. Zur Konfliktbewältigung hatte der Verband ein Deeskalationsseminar bei der Polizeiakademie Niedersachsen in Nienburg angeboten. So weit ist es in der Lessingstadt durch die durchdachten Lösungen des „Wolfenbütteler Wegs“ zum Glück noch nie gekommen.
Zahlen, Daten und Fakten
- In Deutschland gibt es insgesamt 970 Tafeln mit unterschiedlichen Trägern
- Aufgaben der Tafeln: Lebensmittelverschwendung bekämpfen und Menschen helfen, die kurzfristig in Not geraten sind
- Die Tafel Wolfenbüttel wurde 2007 gegründet
- Die Sortierung der Lebensmittel erfolgt am Exer
- Die Ausgabe der Lebensmittel erfolgt im „Eberts Hof“ im Großen Zimmerhof 29
- Eine Außenstelle gibt es in Schladen in den Räumen der alten Schule
- Aktuell 2.200 Tafelkunden, wöchentlich kommen derzeit 15 bis 20 Tafelkunden hinzu
- Seit 2024 gibt es ein Duo aus haupt- und ehrenamtlicher Leitung, Frederike Schwieger im Hauptamt, Juliane Liersch im Ehrenamt
- 20 Ehrenamtliche in der Ausgabe, 20 Fahrer und 15 Ehrenamtliche bei der Sortierung
- Jeden Tag wird etwa eine Tonne Lebensmittel ausgegeben bzw. gerettet. Das macht 20 Tonnen im Monat oder 240 Tonnen pro Jahr